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Ich habe den Optimismus und die Neugier verloren, die ich noch hatte, als ich zu deinen Kita-Elternabenden ging: Da war ich Anfang dreißig und hatte Lust, Mutter zu sein. Jetzt bin ich Mitte vierzig und will meine Ruhe vor diesen Arschgesichtern, ehrlich, ich verachte sie. Die Angst, die ihnen aus den Poren tritt, und wie sie poltern und hetzen, und versuchen, sich mit irgendwem gemein zu machen, der ihnen Schutz bieten könnte, weil er stark ist. Wie sie Grüppchen bilden, Schwächere ausschließen, darauf lauern, dass jemand anderes sich lächerlich macht-

Ich bin auch so.

Aus: Schäfchen im Trockenen von Anke Stelling

Ein Buch, das ich noch lesen muss endlich gelesen und rezensiert habe! Hier findest du mein Urteil.

Meine mütterliche Neugier ist ebenfalls flötengegangen und hat mich ernüchtert und gelangweilt zurückgelassen. Obwohl ich zugeben muss, dass „unsere“ Elternabende sehr viel ruhiger ablaufen. Bis auf die Lehrerin sagt in der Regel niemand irgendwas. Man lässt die Elternversammlung über sich ergehen in der Hoffnung, dass man sich möglichst bald wieder von den kleinen Holzstühlen erheben und nach Hause gehen kann.

Angst habe ich trotzdem. In Kürze steht das Abschlussfest der sechsten Klassen an, auf dem wir Eltern mehrere Stunden lang einvernehmlich zusammenhocken und feiern müssen. Die meisten Eltern der Sechstklässler sind – im Gegensatz zu uns – Alteingesessene, die den Zugezogenen skeptisch gegenüberstehen. Es handelt sich um ein Grüppchen besonders rückwärtsgewandter Dorfmenschen, die glücklicherweise nicht repräsentativ für den gesamten Wohnort stehen. Es gibt hier mindestens genauso viele Einheimische, die die Willkommenskultur perfekt verinnerlicht haben. Insofern sei mal wieder darauf hingewiesen, dass man nicht alle Leute über einen Kamm scheren darf.

Trotzdem bin ich nun mal mit dem oben erwähnten Grüppchen konfrontiert, das sich uns zu allem Übel auch noch moralisch überlegen fühlt. Ich kann nur mutmaßen, weshalb: Weil wir aus Berlin kommen? Die Hauptstadt hat hier draußen keinen guten Ruf. Sie wird mit absoluter Verkommenheit assoziiert. Und nun verseuchen die Hauptstädter auch noch das Land, weil sie die Mieten in Berlin nicht mehr bezahlen können. Ob sie uns als Invasoren begreifen? Sie sind die Erben. Und wir kaufen es auf, ihr geliebtes Land…


Einmal erzählte mir eine junge Frau, dass sie jeden Tag bis nach Berlin-Reinickendorf zur Arbeit fährt. Von hier aus ist das wirklich weit, eine Stunde mit dem Auto, wenn man gut durchkommt, was im Berufsverkehr quasi unmöglich ist. Ich fragte sie, weshalb sie nicht einfach nach Berlin zieht, um sich den Stress zu sparen. Darauf guckte sie mich an, als würde ich nicht ganz richtig ticken.

Ein anderes Mal gestand mir eine Mutti, sie würde ums Verrecken nie in „Klein-Berlin“ leben wollen. So nennen die Ureinwohner offenbar das in den 90ern entstandene Viertel im Ortskern. Dort sei alles so anonym, die Menschen grüßten einander nicht einmal. Die Zugezogenen denken, sie seien was Besseres. Erst heute Morgen vorm Schultor wieder gehört. Die Alteingesessenen hingegen kümmerten sich noch umeinander, seien hilfsbereit, kurz, sie bildeten eine funktionierende Gemeinschaft.

Dass so etwas auch in Berlin möglich ist, dort ebenfalls nette und hilfbereite Menschen leben, scheint bei einigen Alteingesessenen undenkbar. Das bestürzt mich, denn für mich war Berlin stets das Paradies, eine Oase inmitten der deutschen Wüste. Ich verstehe nicht, wie man diese Stadt nicht lieben kann.


Aber um ehrlich zu sein, geht es gar nicht um Berlin, nicht einmal um unterschiedliche Auffassungen, Bildungsgrade oder Einkommensklassen. Wenn man die Sache ganz genau betrachtet, leiden wir alle hier unter einer misslungenen Stadtplanung.

Das Witzige ist, dass ich schon einmal die Zugezogene war in einem ganz ähnlichen Nest. Dort herrschte tatsächlich das gleiche Problem. Ein (öffentlicher) Bauträger hatte Bauland aufgekauft inmitten eines bestehenden Ortes. Dort errichtete er ein neues Viertel, also ein Dorf im Dorf. Im Rahmen dieser riesigen Baumaßnahme wurden auch ein Spielplatz, ein Sportplatz, ein Supermarkt und ein kleiner Park errichtet sowie teilweise die Straßen des alten Dorfes erneuert. Wir Zugezogenen fühlten uns wie die Heilsbringer, schließlich hatten wir diesem dem demografischen Untergang geweihten Ort neues Leben eingehaucht. Ohne uns hätten mangels Nachwuchses Kita und Grundschule schließen müssen. Ohne uns wäre das Schwimmbad dichtgemacht worden. Und dennoch wollten die Alteingesessenen nichts mit uns zu tun haben. Zumindest die Erwachsenengeneration. Kinder sind da ja flexibler.

Für uns war es nur irgendein Stück Land, auf dem man Häuser baute. Wir hatten keinerlei emotionale Bindung an den Ort, bevor wir dort hinzogen. Für die Alten aber war er bereits Heimat gewesen.

Ihre Suche nach Unterschieden zwischen uns, die sie letztlich als moralisch besser darstellt, ist also dem Schmerz geschuldet, das eigene Zuhause im Rahmen einer umfassenden Modifikation verloren zu haben.

Schuld sind die Zugezogenen, von denen sie sich infolge dessen abgrenzen wollen, indem sie einerseits nicht auf „die Neuen“ zugehen und andererseits nostalgischen Gedanken an ein besseres Damals frönen.


Okay, das waren meine eigenen Überlegungen zu den Gründen für die – nun, nicht besonders herzliche – Wesensart der hiesigen Bevölkerung Neuankömmlingen gegenüber. Ihnen wurde das Zuhause in seiner ursprünglichen Ausprägung genommen…

Man könnte jetzt erwidern: „Leben heißt Veränderung. Kommt damit klar!“ Aber auch darum geht es im Grunde nicht. Eigentlich ist das alles noch banaler. Ja wirklich! Und ich kann mich tatsächlich auf Anke Stelling berufen: Gruppenbildung. Das ist es. Hier die Gruppe der Alten, da die Gruppe der Neuen. Die Eigengruppe steht der Außengruppe gegenüber. Auch wenn nur ein einziges Haus gebaut worden wäre, so wären die Neuankömmlinge doch stets die Neuen geblieben. Wobei ein einziger Neuer natürlich einfacher in eine Gruppe zu integrieren ist als ein ganzes Heer. Letzteres wird erst einmal immer als Außengruppe wahrgenommen, gegen die es sich zu wappnen gilt. So macht ein Mehr an Leuten einen kleinen Ort wie diesen unüberschaubar. Zudem werden die Neuen wahrscheinlich auch als Konkurrenz wahrgenommen. Sie gefährden in gewisser Weise den Status quo der Alteingesessenen.

Die Karten werden neu gemischt.

Es wird ein langer Abend im Juni, den mein Mann und ich vermutlich vollkommen isoliert an einem Kneipentisch zubringen werden. Seufz.

Nun, immerhin kann ich mich dann auf Anke Stelling berufen: Arschgesichter.

Als Zugezogenen bleibt uns nur Eines zu tun: diesen Abgrenzungsversuchen mit Freundlichkeit entgegenzutreten, um Vorurteile abzubauen.

So viel zur Theorie.

MM


Zugegeben, es wäre meinem Gefühlsleben zuträglicher, wenn ich isoliert von der Gesellschaft leben würde, umgeben von Natur statt von Menschen. Viele meiner Mitmenschen gehen mir buchstäblich auf die Nerven.

Da wäre zum Beispiel der Nachbar, der mehrmals täglich mit heruntergekurbeltem Fenster direkt an meiner Sitzecke vorm Haus vorbeifährt, um mich unverwandt anzusehen (wenn ich denn im Garten sitze) und zu grüßen. Es kostet mich jedesmal wahnsinnig viel Überwindung, aufzuschauen und ihn zurückzugrüßen. Ich habe echt keinen Bock darauf, aber die Höflichkeit gebietet es eben. Das könnte ich mir sparen, wenn ich zum Beispiel in einer einsamen Almhütte wohnen würde. Oder in einer Großstadt, wo man in der Anonymität der Masse so wunderbar verschwindet.

Wobei ich hinsichtlich des Grüßens ausgerechnet in Berlin mal ein Schlüsselerlebnis hatte. Ich schweife vollkommen vom Thema ab, aber dieses Erlebnis hat mich gleich zwei Dinge gelehrt:

A Berlin ist auch nur ein Dorf.

B Jeden zu grüßen.

Und zwar bin ich vor vielen, vielen Jahren einmal den Tempelhofer Damm entlangspaziert. Ich schob den Kinderwagen vor mir her und schaute mir all die Lädchen an, die auf meinem Weg lagen, als mich plötzlich jemand wütend anfuhr: „Warum grüßen Sie eigentlich nie?“ Vor mir stand ein Mann mittleren Alters und schaute mich missbilligend an. Offenbar hatte er mich gerade gegrüßt, was ich jedoch nicht bemerkt hatte – oder ich fühlte mich nicht angesprochen. Ich war total erstaunt, um nicht zu sagen erschrocken. Schließlich war ich mir keiner Schuld bewusst. Ich hatte diesen Mann noch nie gesehen. Also antwortete ich: „Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Ich wohne nicht hier und ich kenne Sie auch nicht.“
„Natürlich kennen wir uns! Wir wohnen doch in derselben Straße!“, sagte er und rauschte davon. Ich kann euch sagen, der Kerl war echt sauer. Daraufhin durchforstete ich erstmal mein Hirn nach irgendeiner Eingebung, die mich darauf bringen würde, wer dieser Mann war. Es brachte nichts.

Später sah ich ihn dann noch viele Male: Er wohnte tatsächlich nur zwei Eingänge weiter. Seither grüße ich prophylaktisch jeden, der mich erwartungsvoll ansieht. Nicht nur aus Höflichkeit, sondern vor allem deshalb, weil ich niemanden verletzen möchte.

Das ist hier wesentlich einfacher als in Berlin. Schließlich begegnet man lange nicht so vielen Leuten. Es passiert, ehrlich gesagt, so selten, dass ich es oft bin, die die Leute erwartungsvoll ansieht. Und dann schauen wir uns an, lächeln und nicken einander zu. Eigentlich nett, oder? Jetzt müssten wir nur noch ins Gespräch kommen.


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