Nun mal langsam!

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Die halbe Welt spricht neuerdings von Entschleunigung, Achtsamkeit, Persönlicher Entwicklung, Resilienz oder Selbstliebe. -Allesamt Buzz Words der Küchenpsychologie, mit denen man hin und wieder in Literatur und Netzwelt konfrontiert wird, ohne sie recht einordnen zu können. Im Rahmen der Blogparade „Ernte und Dank“ von der Multipotentialistin habe ich einmal näher über einen entschleunigten Lebensstil nachgedacht, um kurz darauf festzustellen, dass ich mein Leben längst unwissentlich entschleunigt habe. Ha!

Doch zunächst zur offiziellen Definition:

Mit Entschleunigung wird umgangssprachlich ein Verhalten beschrieben, aktiv der beruflichen und privaten Beschleunigung des Lebens entgegenzusteuern, d. h. wieder langsamer zu werden oder sogar zur Langsamkeit zurückzukehren – lese ich auf Wikipedia. Und weiter heißt es: 

Dem Streben nach Verlangsamung liegt die Auffassung zugrunde, dass die gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Entwicklung in den entwickelten Industriegesellschaften eine Eigendynamik gewonnen habe, die Hektik und sinnlose Hast in alle Lebensbereiche hineintrage und dabei jedes natürliche und insbesondere menschliche Maß ignoriere. Dem Streben der Berufswelt nach Komplexität, Effektivität, Hast, Hektik, schneller, höher, weiter und mehr wird die Entschleunigung entgegengesetzt. 

Höher, schneller, weiter?: Bullshit

Wie habe ich es also geschafft, „zur Langsamkeit zurückzukehren“? -Ganz einfach, ich habe mich nie um Schnelligkeit bemüht! 😉
Tatsächlich bin ich alles andere als ehrgeizig. Besser zu sein als andere, liegt mir fern. Mein Leben habe ich vornehmlich danach ausgerichtet, mich jedwedem Wettbewerb zu entziehen. 

In einer Leistungsgesellschaft, die davon lebt, dass sich jeder mit jedem vergleicht, ist diese Einstellung natürlich schwer beizubehalten. Insofern befallen auch mich hin und wieder Zweifel und ich frage mich:  

Habe ich wirklich alles aus meinem Leben herausgeholt? Oder geht da noch mehr?

Doch diese Denkweise ist rein ökonomischer Natur, indem sie suggeriert, dass ein Mensch nur dann wertvoll ist, wenn er bestimmte Ziele erreicht hat.  

Wie bei einem Computerspiel kämpft man sich durchs erste Level (nennen wir es Kindheit), um das nächsthöhere zu erreichen, welches wieder bestanden werden muss, um ein noch höheres Level zu schaffen und so weiter. Bonuspunkte, Privilegien und weitere Annehmlichkeiten inklusive – man soll schließlich weiterspielen. Mit dem Unterschied, dass der Endgegner Tod im wahren Leben unbesiegbar ist.

Doch zunächst wird man aufs Abstellgleis befördert. Ob Top-Manager oder Chefarzt, früher oder später wird jeder berentet, leistet nichts mehr und hat somit keinen Nutzen für die Gesellschaft. Zumindest keinen monetären. So wundert es kaum, dass vor allem Menschen, die leitende Positionen innehatten, angesichts ihrer plötzlichen Bedeutungslosigkeit in ein tiefes Loch stürzen. Game over.

Entziehen kann man sich dieser Sichtweise eigentlich nicht, denn die Entwertung von Menschen, die nicht (mehr) dem ökonomischen Ideal entsprechen, begegnet uns immer und überall. Ich werde nie den Satz einer Mutter vergessen, die – nach dem Werdegang ihrer beiden Söhne gefragt – antwortete:

Oh, der eine arbeitet als Banker in Frankfurt am Main! Und der andere, na ja, der kocht in einer Gaststätte. 

Was sie nicht sagte: Der eine ist ein toller Familienvater, der sich mit Hingabe seinem Nachwuchs widmet. Oder: Er war immer für seinen Freund da, der an Depression erkrankt ist. Oder einfach: Er ist ein herzensguter Mann, der jeden seiner Mitmenschen liebenswürdig und respektvoll behandelt. 

Der Mensch ist mehr als Humankapital

Ich glaube nicht, dass die antwortende Frau eine schlechte Mutter ist. Vielmehr antizipierte sie genau, was die Fragestellerin wirklich wissen wollte: Was arbeiten deine Söhne und wie viel verdienen sie?

Haben sie es geschafft? Sind sie oben angekommen?  

Auch Frauen dürfen nur dann behaupten, Karriere gemacht zu haben, wenn sie ein Businesskostüm tragen. Als Sozialarbeiterinnen, Altenpflegerinnen und Erzieherinnen sind sie quasi unsichtbar, schlecht bezahlt – und nichts wert.

Wird man sich des Einflusses bewusst, den die Ökonomie auf unser Denken und vor allem unser Selbstwertgefühl ausübt, ist es nur noch ein kleiner Schritt, sich angewidert abzuwenden – und das eigene Leben zu entschleunigen. 

Entschleunigung ist also auch eine Form der Bewusstwerdung darüber, welche Prioritäten ich im Leben setzen will, und ein Besinnen darauf, was wirklich zählt. Für den einen mag das tatsächlich Geld sein und eine Karriere in irgendeinem Bullshit-Job, für den anderen Einfluss, wieder andere streben nach Liebe, Solidarität, Wahrheit, einem Leben in Einklang mit der Natur oder weiß der Geier was.

Einen Haken hat die Sache allerdings: Man muss es sich leisten können, Prioritäten zu setzen: Wer gerade so über die Runden kommt, wird kaum die Möglichkeit haben, sich weiter einzuschränken und der Langsamkeit zu frönen. 

Entschleunigung ist also auch ein Luxus. 

MM


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3 Kommentare

  1. Die Multipotentialistin

    Hallo liebe Miss Minze,
    vielen lieben Dank für den schönen Beitrag zur Blogparade. Es hat wirklich Spaß gemacht und ich freue mich, dass du dabei warst.
    Die Auswertung mit allen Beiträgen ist jetzt online: https://multipotentialistin.net/2023/entschleunigung-auswertung-meiner-ersten-blogparade/

  2. Queen All

    Wenn man es so betrachtet, genieße ich den Luxus, in ein Unternehmen gewechselt zu haben, in dem der Mensch als solcher wertgeschätzt wird. Wenn man sich manch andere Firmen so anschaut, wird aus dem Humankapital herausgequetscht, was geht. Die Rechnung geht aber in Zeiten von Fachkräftemangel nicht mehr auf und das ist gut so!
    LG
    Vanessa

    • Miss Minze

      Das stimmt natürlich – und es ist wirklich fabelhaft, dass nun der Arbeitnehmer oft am längeren Hebel sitzt!

      Was ich meinte, ist jedoch etwas Anderes: Und zwar habe ich kürzlich einen Radiobeitrag über einen Mann gehört, der sich lange Zeit wertlos fühlte, weil seine Versuche, mit seinen Talenten und Fähigkeiten Geld zu verdienen, gescheitert sind. Es hat sich finanziell einfach nicht gelohnt. Er war also gezwungen, einem Brotjob nachzugehen.
      Irgendwann hat er seinen Mut zusammengenommen und gekündigt, um durch Europa zu wandern und so zu sich selbst zu finden. Er schränkt sich seither finanziell sehr ein und lebt nun quasi in Armut. Aber er fühlt sich nicht mehr wertlos, weil er auf seiner Reise so viele wertschätzende Begegnungen hat und vielleicht auch weil er sich von dieser ökonomischen Erwartungshaltung losgesagt hat.

      Dass es noch eine erfüllende Form der Wertschätzung jenseits von Arbeit und Geld gibt, darauf wollte ich eigentlich hinaus 🙂
      LG Anne

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