Das Kind öffnet sich plötzlich und völlig unerwartet! Neulich hat es mein Handy genommen und darauf TikTok und Crunchyroll installiert. Und nicht nur das!: Es meldete sich mit seinen eigenen Accounts an, als wollte es mir beweisen, dass es in seinen digitalen Welten nichts zu verbergen gibt. Bei Crunchyroll ging es noch weiter: Es zeigte mir seine Lieblings-Animes – quasi als Beweis, dass es auch hochwertigen Content konsumiert.
Crunchyroll wiederum brachte mich auf eine Geschichte, die schon fast in Vergessenheit geraten war: Ihr Vater hatte einmal die Chance, bei Crunchyroll ins Management einzusteigen. Er lehnte das Jobangebot jedoch ab, weil es ihm zu stressig gewesen wäre, jede Woche nach LA zu fliegen und dort ein Team aufzubauen. Er hat ohnehin keine Führungsqualitäten – oder zumindest nicht den Ehrgeiz, andere Menschen zu lenken und zu kontrollieren. Als ich es dem Kind erzählte, blickte es mich entgeistert, ja geradezu schockiert an.
Ist es nicht großartig, wenn man sich selbst gut genug kennt, um zu wissen, was einem wirklich wichtig ist – und wo die eigenen Grenzen liegen? Schließlich gibt es kaum etwas Schlimmeres, als dem äußeren Erwartungsdruck nachzugeben und sich selbst vorzumachen, jemand zu sein, der man nicht ist. Zugunsten seiner psychischen Gesundheit widerstand der Mann den Verlockungen des Geldes und Prestiges und sagte nein. Das versuchte ich dem Kind zu vermitteln, als ich seinen fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte. Dabei ist seine Entscheidung auch ihm zu Gute gekommen, verbringt er doch viel Zeit mit ihm. Zeit, die ihm gefehlt hätte, wenn er einem Bullshit-Job den Vorrang gegeben hätte.
Der Tod des Iwan Iljitsch – ein Vergleich
Wie böse es enden kann, wenn man sein Leben ausschließlich auf den äußeren Schein aufbaut, beschreibt Leo Tolstoi in seiner Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch„. Letzterem ist es im Grunde egal, welchen Beruf er ausübt, hauptsache er verdient ausreichend Geld. Das soll ihm nicht nur einen gewissen Lebensstil finanzieren, sondern auch zu einem Rang in der Gesellschaft verhelfen, der ihm Ansehen und Respekt verspricht. Kurz, er möchte jemand sein. Und das gelingt ihm auch. Er ist glücklich.
Im Alter von 45 Jahren ereignet sich jedoch ein kleiner Unfall: Bei einem Sturz stößt sich Iwan Iljitsch die Seite – ein leichter Schmerz, der schnell vergeht, ihm wenige Monate später aber das Leben kosten wird.
In den Wochen zuvor reflektiert er ebenjenes, um zu dem Schluss zu gelangen, dass er es verwirkt hat. Wie dies zu interpretieren ist, bleibt dem Leser selbst überlassen, doch es deutet viel darauf hin, dass Status und Geld angesichts von Krankheit und Tod unbedeutend sind. Der ganze Schein, den er produziert hat, nützt ihm in den letzten Stunden überhaupt nichts. Im Gegenteil, er wird seinem Umfeld zur Last. Niemand mag seinem Leid beiwohnen, geschweige denn es lindern. Da er nie echte emotionale Bindungen oder Freundschaften aufgebaut hat, verbringt er die Wochen vor seinem Tod allein. Bis auf einen Bediensteten, der ihn pflegt, spendet ihm niemand Trost.
„Der Tod des Iwan Iljitsch“ ist eine der wenigen Geschichten, die mich in letzter Zeit gefesselt und zum Nachdenken angeregt haben. Zuvor habe ich bereits ein anderes Werk Leo Tolstois gelesen, und zwar die Erzählung „Herr und Knecht„, der eine ganz ähnliche Thematik zu Grunde liegt. Letztere hat mir sogar noch besser gefallen, weil sie weniger vorhersehbar ist und ein versöhnlicheres (und sehr überraschendes!) Ende hat.
Doch auch „Iwan Iljitsch“ hat Überraschendes zu bieten, was vor allem in den Parallelen zur Neuzeit liegt. So erwirbt Iljitsch in St. Petersburg seine Traumwohnung, die er persönlich einrichtet, was ihn umso mehr begeistert. Er liebt seine geschmackvollen Möbel und all die Dekorationen, doch Tolstoi beschreibt den Anblick der Wohnung folgendermaßen:
Aber es waren im Wesentlichen die Dekorationen, die alle Menschen ansprechen, die nicht wirklich reich sind, aber reich aussehen wollen, obwohl sie nur so aussehen wie alle anderen: Damaste, Ebenholz, Pflanzen, Teppiche und Bronzen, alles, was dunkel und glänzend ist – alles, was alle Menschen einer bestimmten Klasse haben, um so zu sein wie alle anderen Menschen einer bestimmten Klasse. Und seine Arrangements sahen so sehr aus wie die aller anderen, dass sie kaum auffielen, obwohl er sie als etwas wirklich Besonderes ansah.
Rainald Grebe fasste diese Mentalität kurz und knapp in seinem Lied “Prenzlauer Berg” zusammen, in welchem er zum Besten gibt:
Man bemerke, dass zwischen der Veröffentlichung der Tolstoi’schen Erzählung und Grebes Lied mehr als 120 Jahre liegen. Trotz des zwischenzeitlich vollbrachten technologischen Fortschritts ist der Mensch seinem Naturell erstaunlich treu geblieben.
Des schönen Scheins halber wurde mir tatsächlich auch schon ein Buch geschenkt – mit den Worten: „Auch wenn es dich nicht interessiert, es sieht gut aus im Bücherregal.“ Ja, die Grass’sche Blechtrommel riecht stark nach Bildungskanon, aber ich erwerbe Bücher nicht, um intellektuell zu wirken – und selbiges sollte auch nicht der Grund sein, weshalb man Bücher verschenkt.
Das Kind rollte sich auf dem Bett zusammen, wälzte sich hin und her, und für einen Moment dachte ich, es würde nie wieder zur Ruhe kommen. Doch dann hellte sich seine Miene auf, offenbar war ihm etwas eingefallen: „Dann werde ich eben Managerin bei Crunchyroll!“ verkündete es feierlich.
Nun, was sollte ich sagen, außer ihm zu empfehlen: Hoffentlich aus den richtigen Beweggründen.
MM
Das Titelbild wurde von ChatGPT erstellt.
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