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Eine ganz reizende ältere Dame, diese Miss Ambros. Oder nicht? Vicki Baum erzählt von einem rehäugigen Monster, das Spuren der Verwüstung in San Francisco, Wien und menschlichen Seelen hinterlässt.

SWR 2

So lautet die Einleitung zu einer Rezension des Buchs „Vor Rehen wird gewarnt“, dessen Hörbuch ich mir gerade zu Gemüte geführt habe. Es ist die Geschichte einer Frau – von Kindheitstagen bis ins hohe Alter – die so berechnend, rücksichtslos und selbstsüchtig ist, dass ich ihren Missetaten nie länger als eine halbe Stunde am Stück lauschen mochte.

„Vor Rehen wird gewarnt“: Ein Buch, das sich dem versteckten Bösen widmet

„Ich bekomme immer, was ich will“, lautet Ann Ambros‘ Maxime und so manipuliert sie ihre Mitmenschen – allen voran die Herren der Schöpfung – nach allen Mitteln den Kunst und setzt sich am Ende tatsächlich immer durch. Sie ist eine empfindliche Frau, stilisiert sich auch gerne mal als Opfer. Überdies ist sie von atemberaubender Schönheit. Das weckt sowohl Begehren als auch Beschützerinstinkte bei ihren Veehrern. Doch sie liebt nur einen, den Ehemann ihrer Schwester. Man ahnt, worauf es hinausläuft…

Vicki Baum hat ein so unsympathisches Geschöpf entworfen und noch dazu zur Protagonistin ihres Buchs erkoren, dass das Lesen/Zuhören mitunter unerträglich wird. Nein, solche Stoffe gehören normalerweise nicht auf meine Bücherwunschliste, doch habe ich ihren 1951 erschienenen Roman diesmal ganz bewusst gewählt:

Ich kenne mindestens zwei Personen, die ähnlich zerstörerisch-manipulativ durchs Leben gehen, und wollte einfach mal wissen, ob die Literatur mir Lebenshilfe leisten kann. Wie geht man mit solchen Menschen um?, lautete meine bescheidene Frage. Das Buch konnte sie zum Teil beantworten – allerdings nur in Kombination mit dem Podcast „Soziopod, und zwar dessen letzter Ausgabe Nr. 57: Hannah Arendt – Über das Böse.

Was hat das eine mit dem anderen zu tun?, mag man sich fragen. Nun, die zentrale Figur im Roman, Ann Ambros, versteht es perfekt, die Herzen anderer Menschen zu gewinnen. Verständlich, will denn nicht jeder geliebt werden?

Sie meint es doch nur gut

Dabei geht sie jedoch äußerst rücksichtslos vor und nimmt auch in Kauf, dass sie Unschuldige ins Verderben oder sogar in den Tod stürzt. Dennoch ist ihre Liebe (z.B. zu ihrem Mann und ihren Kindern) aufrichtig, ihre Zuneigung echt und auch ihr Handeln ist nicht von Boshaftigkeit geleitet. Sie ist kein Monster, denn sie hat keinen Gefallen daran, Böses zu tun. Sie nimmt das Böse lediglich in Kauf, um ihren Willen durchzusetzen. Es verwundert also nicht, dass das Resultat ihrer Handlungen stets desaströs ist, obwohl sie es eigentlich nur gut meint.  

Was Hannah Arendt und Vicki Baum gemeinsam haben

Und hier kommt Hannah Arendt ins Spiel mit ihrem berühmt gewordenen Begriff der Banalität des Bösen. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Baum und Arendt ihre Schriften zur gleichen Zeit herausbrachten, nämlich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie beschreiben beide einen ganz bestimmten Menschenschlag: so oberflächlich, dass er in sich selbst keine moralischen Grenzen findet, und so gedankenlos, dass alles egal ist – außer ihm selbst.

Für Hannah Arendt sind es jene ganz normalen Leute, die nie darüber nachdenken, was richtig und was falsch ist (weil ihnen diese Frage im Grunde völlig gleichgültig ist), die wahrhaft Böses hervorbringen, denn ihre Gedankenlosigkeit wird zur Gewissenlosigkeit. Sie sind zu allem imstande!

Der Wolf im Schafspelz

Nehmen wir Ann Ambros, die die wesentliche Schuld am Tod ihrer Schwester trägt: Sie hat überhaupt kein schlechtes Gewissen, schließlich habe sie dem Schicksal bloß ein wenig nachgeholfen. Eine weitere gern von ihr verwendete Rechtfertigung ist der liebe Gott: Er habe sie doch erst auf diese Idee gebracht… Mrs Ambros kann durchaus gut schlafen, sie ist sich keiner Schuld bewusst.

Auch für ihre Familie ist diese Schuld nicht greifbar: Jeder kennt Ann Ambros als Schlange und Brandstifterin, doch niemand kann sie darauf festnageln: Schließlich wirkt sie so harmlos, eine reizende ältere Dame… Außerdem geht es ihr ja so schlecht: Unangenehme Situationen umschifft Ambros gerne, indem sie einen Schwächeanfall vortäuscht oder von einer fibrigen Erkältung für mehrere Tage ans Bett gefesselt wird. Krank ist sie nicht wirklich, aber sie liebt die Opferrolle, denn darin lässt es sich so herrlich leicht verstecken, das geplante Übel.

Die Einsicht kommt spät, vielleicht auch nie

Bis zu ihrem 65. Lebensjahr, dem Beginn von Baums Roman, kommt Ambros damit durch. Dann platzt Ann’s Tochter doch einmal der Kragen, sie wird handgreiflich und sorgt für einen Unfall, den die alte Dame jedoch überlebt. Immerhin bewirkt dieser Unfall ein Innehalten: Ambros ist über Stunden allein und wähnt sich dem Tod nahe. Nun brechen sich die Erinnerungen an ihre Taten Bahn – und die alte Dame bereut. Endlich.

Für den Umgang mit derartig dominanten und manipulativen Persönlichkeiten klingt dies wenig vielversprechend: Nahtoderfahrungen sind schließlich alles andere als alltäglich und schwerlich umzusetzen…

Was also tun?

Ich bin ratlos: Tatsächlich habe ich den Kontakt zu den mir bekannten Ambros’schen Frauen auf ein Minimum reduziert. Telefonate nehme ich nicht an, auf Nachrichten reagiere ich nicht. Und muss ich ihnen doch hin und wieder persönlich gegenübertreten (auf Familienfeiern zum Beispiel), so beschränke ich die Themen aufs Wetter, Mode, Rezepte und Inneneinrichtung. Immer schön oberflächlig bleiben. Denn eines können sie gar nicht ab: Widerspruch. Ein echtes Gespräch in Form eines Austausches von Argumenten und Gegenargumenten ist daher unmöglich.

MM


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