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Rezension des Romans „Die Wand“ von Marlen Haushofer

Wie bereits mehrfach verbloggt, wollte meine Tochter, als sie klein war, unbedingt reiten lernen. Also bin ich mit ihr zum nächstgelegenen Reiterhof gefahren, wo sie ein paar Probestunden nehmen durfte. Dort begegnete ich zum ersten Mal einem Menschenschlag, der Pferde über alles liebt, Menschen jedoch allenfalls lästig findet. Die Menschenhasser nannte ich sie insgeheim abfällig. Tatsächlich waren es ausschließlich Menschenhasserinnen.

Eine solche Menschenhasserin ist auch die Protagonistin des Romans “Die Wand” der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer. Als einzige Überlebende einer unbekannten Katastrophe, die sie offenbar als einzigen Menschen hinter einer unüberwindbaren Wand aus Glas zurückgelassen hat, ist die Abscheu gegen das Menschengeschlecht allerdings nicht nur praktisch, sondern überlebensnotwendig. Die namenlose Erzählerin dreht nämlich nicht durch, sondern widmet sich – den Tieren

Mit einem Jagdhund, einer Katze und einer Kuh bewohnt sie von nun an ein gut ausgestattetes Jagdhaus in den Alpen. Dort wollte sie eigentlich nur ein Wochenende mit ihrer Cousine und deren Mann verbringen. Nun kämpft sie allein ums Überleben, denn das Paar ist tot, und die Vorräte werden knapp. Wie sie dabei vorgeht und welche Herausforderungen damit verbunden sind, schildert der Roman en detail und so spannend, dass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte.

Vordergründig besteht das Tagewerk der Protagonistin aus der Beschaffung von Nahrung, Kaminholz und Heu für ihre Kuh. Obwohl sie mit dem Jagdgewehr umgehen kann und regelmäßig Wild erlegt (und zerlegt), plagt sie stets der Hunger. Zucker und Salz gehen schon bald zur Neige, auch auf Mehl muss sie verzichten, so dass sie sich irgendwann fast nur noch von Fleisch und Kartoffeln ernährt. Letztere baut sie auf einem selbst angelegten Acker an. Gemüse findet sie nur noch in Form von Brennnesseln, die sie wie Spinat zubereitet. 

Davon abgesehen sind es die Tiere, die sie am Leben halten: ihre Gesellschaft, aber vor allem ihre Bedürfnisse, die sie stillen kann und muss. Der Gedanke, dass sie ohne die Erzählerin nicht überlebensfähig wären, rechtfertigt ihr Weitermachen. 

“Die Sorge um Bella machte mir viel Arbeit. Ich hatte jetzt reichlich Milch für mich und Luchs, aber selbst wenn Bella keine Milch gegeben hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, nicht ebensogut für sie zu sorgen. Sehr bald war sie mir mehr geworden als ein Stück Vieh, das ich zu meinem Nutzen hielt. Vielleicht war diese Einstellung unvernünftig; ich konnte und wollte aber nicht dagegen ankämpfen. Ich hatte ja nur noch die Tiere, und ich fing an, mich als Oberhaupt unserer merkwürdigen Familie zu fühlen.”

An ihre eigentliche Familie denkt sie selten, und wenn, dann seltsam verbittert: 

“Als ich am zehnten Mai erwachte, dachte ich an meine Kinder als an kleine Mädchen, die Hand in Hand über den Spielplatz trippelten. Die beiden eher unangenehmen, lieblosen und streitsüchtigen Halberwachsenen, die ich in der Stadt zurückgelassen hatte, waren plötzlich ganz unwirklich geworden. Ich trauerte nie um sie, immer nur um die Kinder, die sie vor vielen Jahren gewesen waren. Wahrscheinlich klingt das sehr grausam, ich wüsste aber nicht, wem ich heute noch etwas vorlügen sollte. Ich kann mir erlauben, die Wahrheit zu schreiben; alle, denen zuliebe ich mein Leben lang gelogen habe, sind tot.”

Tatsächlich liest sich der Roman sehr wahrhaftig, so, als hätte die Autorin all ihre Schilderungen selbst erlebt und lediglich einen Tatsachenbericht vorgelegt. Im Nachwort zum Roman erfährt der Leser auch den Grund dafür: Haushofer war eine Autorin, die sich nicht nur Geschichten ausdachte, sie hat in ihren Geschichten gelebt. Die Wand ist ihre Flucht vor der Realität eines spießbürgerlichen Lebens als Hausfrau, Mutter und Angestellte ihres Mannes, in dessen Zahnarztpraxis sie am Empfang sitzt. Anders als die Heldin in ihrem Buch, muss sich Haushofer ein Leben lang verstellen, um sich erwartungsgemäß zu verhalten.

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Die namenlose Ich-Erzählerin findet sich nach dem ersten Schock nicht nur mit ihrem Schicksal ab, sie betrachtet es als eine Chance auf einen Neuanfang. Trotzdem ist sie nicht glücklich, im Gegenteil, nun plagen sie andere Sorgen und Ängste: Krankheiten und Verletzungen können ein Todesurteil sein, die harte körperliche Arbeit strengt sie bis zur völligen Erschöpfung an, ihre Tiere werden bedroht, einige sterben, was sie nur schwer verkraftet. Sich darüber klar zu werden, dass sie ganz auf sich allein gestellt ist, ohne dass jemals Hilfe von außen kommen wird, lässt sie vor Angst manchmal kaum in den Schlaf finden. Ablenken kann sie sich indes nicht: 

“Es gab ja nichts, was mich ablenken und geistig beschäftigen konnte, keine Bücher, keine Gespräche, keine Musik; nichts. Seit meiner Kindheit hatte ich es verlernt, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen, und ich hatte vergessen, dass die Welt einmal jung, unberührt und sehr schön und schrecklich gewesen war. Ich konnte nicht mehr zurückfinden, ich war ja kein Kind mehr und nicht mehr fähig, zu erleben wie ein Kind, aber die Einsamkeit brachte mich dazu, für Augenblicke ohne Erinnerung und Bewusstsein noch einmal den großen Glanz des Lebens zu sehen.”

Man freut sich ob ihres Lebensmutes, der nicht versiegt, solange sie sich um ihre Familie – ihre Tiere – kümmern kann, doch gleichzeitig verspürt man beim Lesen stets die Anwesenheit eines großen Schmerzes. “Die Wand” ist ein bedrückendes Buch, zumindest habe ich es als solches wahrgenommen. 

Trotzdem (oder gerade deshalb) hat es mich nicht losgelassen. Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, das mich so berührt hat, was vornehmlich an der Intimität der geteilten Gedanken liegt. Es ist keine Geschichte, sondern das Leben an sich, das Haushofer in Worte fasst – und das glückt nur ganz wenigen Autoren. -Vermutlich den unglücklichsten ihres Berufsstandes.

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Vor allem fühlte ich mich vom Grundgedanken angesprochen, keinem mehr etwas schuldig zu sein und somit alle Verhaltensnormen ablegen zu können. Jetzt, wo es niemanden mehr gibt, auf dessen Gefühle sie Rücksicht nehmen muss, braucht sich die Protagonistin nicht mehr zu verstellen. Sie kann ehrlich zu sich selbst sein. All das wird ihr erst möglich, weil sie allein ist, einsam. Ein Zustand, der neuerdings immer wieder Gegestand kritischer Berichterstattung ist. Es ist eine Erleichterung, auch mal einen Text zu lesen, in welchem die Einsamkeit als ein befreiender Zustand gefeiert wird, ohne sie zu glorifizieren.

MM


Übrigens: Im Jahr 2019 stieß die französische Bloggerin Diglee zufällig in einer Buchhandlung auf das ihr bislang unbekanntes Werk von Marlen Haushofer. Tief bewegt von der Lektüre, teilte sie ihre Eindrücke auf Instagram. Ihre Empfehlung verbreitete sich in Windeseile, was zu einer sprunghaften Nachfrage führte. Seitdem erfreut sich „der Roman „Die Wand“ in Frankreich großer Beliebtheit und gilt als Symbol einer neuen öko-feministischen Bewegung. Ein Zeitungsbericht über die Beliebtheit der Österreicherin Haushofer bei den Französinnen wiederum machte mich auf das rezipierte Buch aufmerksam. 🙂


Die Wand, Roman von Marlen Haushofer, 1963

Titelbild von Daniel Seßler


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