Rezension „The Night always comes“ von Willy Vlautin
Seit drei Jahren kennt Lynette nichts als Arbeit: Die erste Tageshälfte schuftet die 30-jährige Protagonistin des Romans „The Night always comes“ in einer Bäckerei, die zweite Hälfte jobbt sie in einer Bar und nachts prostituiert sie sich. 80 000 Dollar hat sie so bereits zusammengespart, um sich den Traum vom Eigenheim für ihre Mutter, ihren geistig behinderten Bruder und sich selbst zu erfüllen. Doch selbst für eine Bruchbude zahlt man in Portland, Oregon, wo der Roman angesiedelt ist, mindestens das Dreifache. Lynette ist jedoch nicht kreditwürdig und deshalb auf ihre Mutter angewiesen. Die stimmt dem Vorhaben zunächst zu, kurz vor Vertragsabschluss macht sie allerdings einen Rückzieher: Statt einen Kredit fürs Haus aufzunehmen, kauft sie sich ein nigelnagelneues Auto auf Pump – und durchkreuzt damit die Pläne ihrer Tochter, Vermögen aufzubauen.
Für Lynette bricht eine Welt zusammen, ihre Mutter hält dagegen:
I’m fifty-seven years old and I still buy my clothes at Goodwill. It’s a little late for me to care about building a future. […] Other women my age are going on vacation with their grandkids, they’re talking about retirement plans and investments. […] I’ll have to work at Fred Meyer until I drop dead. I’ll never get to retire and that’s just a goddamn fact. […] Why do I have to have a debt hanging over me for the rest of my life? Haven’t I given enough? I mean, why can’t I have something nice for a change? Just for me, just once. I drove that piece-of-shit Saturn for seventeen years. And day after day everyone on the road saw me for what I am, a middle-aged, overweight fatso loser.
Den Glauben an eine bessere Zukunft hat Lynettes Mutter verloren, den Glauben an sich selbst sowieso. Und das wird vom Neuwagen ganz wunderbar gespiegelt, der ihr den verlorenen Selbstwert, ihre Würde, zurückgeben soll.
Für Lynette aber ist ein Auto nur ein Auto – und Aufgeben ohnehin keine Option. Und so setzt sie noch einmal alles daran, in einer einzigen Nacht so viel Geld wie möglich zusammenzukratzen, um ihren Traum vom Haus doch noch zu erfüllen. Der Beginn einer Tour de Force von einer Gestalt der Nacht zur nächsten: Kleinkriminelle, Dealer, Freier und vermeintliche Freunde klappert sie ab, um das Geld einzutreiben, das diese ihr schulden.

Kaum einem dieser Menschen geht es besser als ihr, doch ist von Zusammenhalt oder gar Mitgefühl keine Spur. Im Gegenteil, jeder versucht auf seine Art, die junge Frau zu verarschen, loszuwerden oder gar umzubringen.
Tatsächlich war in Lynettes Leben selten jemand gut zu ihr und so macht sie sich immerhin keine Illusionen. Sie ist vorbereitet und weiß sich aus jeder noch so heiklen Situation zu befreien. Trotzdem verliert sie nie ihren moralischen Kompass, was sie von ihren Wegbegleitern – allen voran ihrer Mutter – ,klar unterscheidet.
Willy Vlautin beschreibt in „The Night always comes“ Menschen, für die sich der American Dream ausgeträumt hat. Vom Tellerwäscher zum Millionär, wenn man nur hart genug arbeitet? -Wie soll man das schaffen, wenn man ohne geregeltes Einkommen nicht mal eine Wohnung mieten kann? Wenn keine Bank dir einen Kredit gibt, so dass du nie Vermögen aufbauen kannst? Wenn du nur Jobs kriegst, wo man dich von heute auf morgen feuern kann – ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder gar Urlaub? Also werden die Ellenbogen ausgefahren und in den Kampfmodus gewechselt, ganz nach dem Motto: Jeder ist sich selbst am nächsten.
Trotzdem lässt Vlautin seine Protagonistin nicht untergehen. Das Ende mag märchenhaft sein und vielleicht ist Vlautin ein Romantiker, aber nach all der Härte, mit der sich Lynette in dieser Nacht konfrontiert sieht, will er, dass das Gute siegt. Und das ist ja auch ein Vorteil, wenn man Schriftsteller ist: Man entscheidet selbst, wie die Geschichte ausgeht 🙂
Netflix hat den Stoff verfilmt. In der Zeitung stand eine Rezension darüber und so habe ich von „Night always comes“ erfahren. Allerdings empfahl die Rezensentin vom Tagesspiegel, lieber die Romanvorlage zu lesen. Der Film sei zu weichgespült. Also habe ich mir das Buch gekauft. Selten hat mich eine Geschichte so mitgerissen. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, so spannend ist es geschrieben. Empfehlenswert.
MM
Titelbild von Jay Wennington
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