Es gibt kein richtiges Leben im falschen

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Neulich stand ich an einer Haltestelle in Potsdam und habe auf die Straßenbahn gewartet, als mein Blick auf eine ältere Frau und ihre beiden Enkelinnen fiel, die nur drei Meter entfernt von mir ebenfalls warteten. 

Das eine Mädchen war so klein, dass es festgeschnallt im Buggy saß, an deren Griffen sich ihre Oma krampfhaft festhielt, die Mundwinkel herabhängend wie bei einer Bulldogge. Das andere Mädchen war schon größer, fünf Jahre vielleicht, und stand neben dem Buggy. Sie hielt ein Brötchen in der Hand und mit der anderen strich sie ihrer kleinen Schwester liebevoll über den Kopf. „Lass das!“, zischte daraufhin die Frau und das Mädchen zog schnell seine Hand zurück. Die kleine Schwester im Buggy schaute ganz unglücklich drein und seufzte immer wieder schwer. Seine Augen waren tränennass. Es musste sich offensichtlich stark zusammenreißen, um nicht noch einmal zu weinen, denn das hatte ihm seine Oma gerade verboten („Brauchst gar nicht zu heulen!“).

Wieder näherte sich das größere Mädchen und wollte die Kleine im Buggy umarmen, um sie zu trösten – und wieder tönte es von ihrer Oma: „Lass sie in Ruhe!“ und: „Die weiß schon, warum.“ Das kleine Mädchen verzog das Gesicht, als wollte es gleich weinen, aber auch da erfolgte sofort der Befehl: „Du sollst nicht heulen!“

Ich musste den Blick abwenden, um nicht selbst gleich loszuheulen. Kurz bevor die Straßenbahn einfuhr wagte ich noch einen kurzen Blick auf die drei und zu meinem Erstaunen hatte das kleine Mädchen wirklich nicht angefangen zu weinen. Es starrte traurig, aber gefasst vor sich hin.

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Auch ohne ein Psychologiestudium war mir klar, dass die Oma in ihrer Kindheit Ähnliches erlebt haben musste. Liebe und Trost waren ihr verwehrt worden, als sie sie am dringendsten gebraucht hatte. Ihr Schmerz ist in Gefühlskälte umgeschlagen. Kalt gegenüber sich selbst, kalt gegenüber ihren Nächsten. Ihre Enkelin weinte und die einzige Reaktion darauf waren Wut und Verachtung. Wer weiß, was sie getan hätte, wenn wir uns nicht zufällig in der Öffentlichkeit befunden hätten?

Nun, dass die ältere Frau emotional gestört war, war ihr Problem. Was ich mich allerdings fragte, war: Warum gestand sie ihrer älteren Enkelin nicht zu, die kleine Schwester zu trösten? Warum übertrug sie ihr Fehlverhalten auf die übernächste Generation?

Ich vermute, dass das natürliche Mitgefühl des Kindes ihr vor Augen hielt, wie falsch sie sich selbst verhielt. Doch anstatt sich davon zu einem Sinneswandel bekehren zu lassen, verschloss sie sich nur umso mehr, weil ansonsten das gesamte Konstrukt ihrer Selbst in sich zusammengestürzt wäre wie ein Kartenhaus.

„Wahrscheinlich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträglich, er wäre zu beschädigt für sie.“

Theodor W. Adorno

MM

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2 Kommentare

  1. Queen All

    Wie traurig 😥 – es ist leider tatsächlich so, dass der Umgang mit Gefühlen von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das zu durchbrechen schaffen zum Glück einige, die entsprechend selbstreflektiert sind und solche Muster dann erkennen. Aber wenn man so etwas als Außenstehender hilflos mit ansehen muss, ist das schon frustrierend. Da kann man es nur im eigenen Leben besser machen.

    • Miss Minze

      Du sagst es!
      Glücklicherweise war es „nur“ die Oma, also eine Bezugsperson von vielen. Bleibt zu hoffen, dass die Eltern der Mädchen und/oder KindergartenerzieherInnen dieses Fehlverhalten durch ihren positiven Einfluss aufwiegen können. Oft hilft es ja schon, sich wenigstens von einem Menschen geliebt und verstanden zu fühlen.

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